Forschungsbericht | Prof. Andreas Gierer

 

01 Umkehrräume | Umkehrrisse | Raum und Gestaltforschung

„Man könnte im Abdruck eine für dieses Jahrhundert typische Form der Kritik an der klassischen Repräsentation sehen – die jedoch einen grundlegend anderen Weg einschlägt als die Abstraktion, denn statt sich radikal vom dargestellten Gegen-stand, vom Realen abzuwenden, wendet der Abdruck sich ihm radikal zu, so radikal, dass er in der Berührung jede optische ‚angemessene Distanz‘, jede Konvention oder Evidenz der Sichtbarkeit, der Erkennbarkeit, der Lesbarkeit subvertiert.“

Mit dem einleitenden Zitat wird ein grundlegendes Phänomen in der Architektur- und Baugeschichte, aber auch in den benachbarten Disziplinen wie der Kunst, dem Design und der Literatur, problematisiert. Dass der Abdruck jedoch eine Vorgeschichte in der Geschichte der Architektur hat, die bis heute in aktuellen Projekten fortwirkt, ist bisher kaum untersucht worden. Der Abdruck kann durch Berühren oder Eindrücken eine Spur hinterlassen. Der Abdruck kann aber auch für das Abformen eines Objektes stehen, das in eine vom Original abgenommene Negativform gefüllt wird. Theoretisch betrachtet entfernt uns die Darstellung des Abdrucks in doppelter Hinsicht von der Realität, regt aber gerade an dieser Stelle an, den Weg in beide Richtungen weiterzuverfolgen.
Entlang der leitenden Frage des Forschungsprojektes, welche Rolle der Abdruck in der Architektur- und Baugeschichte spielt und welche Bedeutung dabei den künstlerischen Mitteln und Verfahren im Entwurfs- und Gestaltungspro-zess zukommen, war es das Ziel neben einer Bestandsaufnahme aktueller architektonischer und künstlerischer Projekte auch historische Beispiele zusammen zu tragen. Für die problemorientiere Forschungsarbeit stellten sich für die Reali-sierung des Projektes fünf entscheidende Schwerpunkte in historischen und aktuellen Beispielen in Kunst und Architek-
tur heraus: Der Abdruck als Modifikation im historischen Prozess und als Sichtbarmachung geschichtlicher Zusammen-hänge, der Abdruck als Repräsentation, der Abdruck als sichtbares Zeichen der Abwesenheit und des Verlustes, der Abdruck und Abguss zur Darstellung des Wesentlichen im Verhältnis zum Nützlichen und der Abdruck als analytischer Erkenntnisprozess und als einer Sichtbarmachung des Bewegungsraumes im Negativmodell. Die folgenden Beispiele sind in künstlerische und architektonische Mittel unterschieden und lassen Aspekte dieser Themen durchscheinen.

Der Abguss als künstlerisches Mittel
Das Abgussverfahren stellt ein Mittel zur Umsetzung oder Überprüfung des künstlerischen Konzeptes dar. Eines der bekann-testen Beispiele stellen die Arbeiten des französischen Bildhauers Auguste Rodin dar, der im Prozess seiner skulpturalen Form-findung dem Abguss, meist von Körperfragmenten, verpflichtet war. Die damalige Debatte war von der Frage geprägt, ob die nach der Abformung gewonnene Natur überhaupt noch Kunst sei. Völlig neu wird die Frage nach dem Verhältnis von Wirk-lichkeit und Abbild anhand der Readymades von Marcel Duchamp in der Kunst des 20. Jahrhunderts diskutiert. Dabei vereint gerade auch das Werk Duchamps in dem Gipsabguss eine neue Dimension des Strebens nach der angemessenen Wieder-gabe und Aneignung des (menschlichen) Körpers. Mit Blick auf die Frage der Repräsentation vermag gerade das technische Verfahren des Abdrucks eine neue Dimensionen zu eröffnen. So entwickelte Yves Klein seinen Anthropomorphismus, der unter Verwendung des weiblichen körperlichen Abdrucks entstand. Bruce Nauman hingegen widmet sich seit den 1960er Jahren der Verbindung von künstlerischem Objekt und Raum. Mit der frühen Arbeit A Cast of the Space under my Chair denkt Nau-man so mit dem Abgussverfahren über die Unterseite und die Rückseite von Dingen nach. Für ihn bestimmen das Innere und das Äußere unsere physikalischen, physiologischen und psychologischen Reaktionen und er meint damit, die Art und Weise, wie wir einen Gegenstand betrachten. Auch die Arbeiten der englischen Künstlerin Rachel Whiteread setzen mit den Abgüs-sen von Möbeln, Gebrauchsgegenständen und ganzer Innenräume ein. Mit dem Projekt House geht sie noch einen Schritt weiter und gießt ein komplettes viktorianisches Arbeiterwohnhaus, das ursprünglich im Londoner Stadtteil Bow stand, ab. Sinnbildlich werden damit mentale Räume zu materiellen Räumen und eröffnen neue Sichtweisen auf ursprüngliche Raum-verhältnisse. Ein anderes Projekt, Water Towers, der Künstlerin, dass sie 1998 in New York realisierte, ist ein Harzabguss des Innenraums eines einmal funktionierenden Zedern-Wasserturms. Diesen wählte sie speziell für die Textur aus, die diese spe-zifische Holzart der angegossenen Oberfläche verleihen würde. Als Ergebnis fängt das lichtdurchlässige Harz die Qualitä-ten des umliegenden Himmels wie Wasser ein. Damit steht die Arbeit exemplarisch für die Sichtbarmachung des Gleichnis-ses von Lao-Tse, der den Tonkrug als das Nützliche und den Leerraum, das Unstoffliche, als das Wesentliche beschreibt.